Miteinander reden - Miteinander lernen


Evangelischer Bildungsimpuls 6

Jesus von Nazareth II:

seine Reich-Gottes-Botschaft

von Dorothea Zager und Werner Zager


Eng verwoben mit der Person Jesu von Nazareth, mit seinem Handeln und seiner Predigt ist die Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes. Wie wir im vormaligen Bildungsimpuls gesehen haben, ist Jesus selbst davon ausgegangen, dass Gott seine Herrschaft auf Erden damals bereits begonnen habe durchzusetzen und das siegreiche und endgültige Hereinbrechen dieses „Himmelreiches“ in ganz naher Zukunft zu erwarten sei. Wir, die wir nahezu 2000 Jahre später leben und erkennen müssen, dass sich Jesu Hoffnung so nicht erfüllte, können das Reich Gottes nicht mehr in derselben Weise erwarten wie er. Wie aber können wir dann heute unsere Hoffnung auf eine gottgewollte Zukunft unserer Welt in Gedanken und Worte fassen? Albert Schweitzer hat darauf folgende Antwort gefunden:

Die ersten Christen, wie auch der Apostel Paulus, erwarteten die Wiederkunft Jesu für alsbald, noch zu ihren Lebzeiten. Dies hat sich nicht ereignet. Und immer wieder, wenn im Christentum Bewegungen stattfanden, ist ihre Hoffnung nicht erfüllt worden. Darum meine ich, dass wir diese Erwartung dahingestellt sein lassen können. Das, worauf es ankommt ist, dass der Geist Jesu von uns Besitz ergreift und unser Sinnen und Denken aus dieser Welt heraushebt, dass es in uns Reich Gottes werde. Und dass wir in der Menschheit neue Zustände schaffen, die dem Geist der Liebe, wie er durch Jesus in die Welt gekommen, entsprechen. Dann ist Jesus durch seinen Geist in dieser Welt und wirkt durch ihn in uns und in der Welt. Dass das Reich Gottes nicht gekommen ist, wie die ersten Christen es erwarteten, will vielleicht bedeuten, dass wir es nicht erwarten, sondern in uns und außer uns im Geiste Jesu zu ver­wirklichen suchen. Wo der Geist Jesu herrscht, ist Reich Gottes. Dies, glaube ich, ist, was Gott von uns will. Alles andere kann dahingestellt bleiben.

Der Kernsatz aus diesen Worten Schweitzers „Das, worauf es ankommt ist, dass der Geist Jesu von uns Besitz ergreift und unser Sinnen und Denken aus dieser Welt heraushebt, dass es in uns Reich Gottes werde“, macht deutlich: Schweitzer ruft uns nicht zu einem blinden Aktionismus der Menschenfreundlichkeit auf – dazu weiß er viel zu genau, dass ein jeder Mensch mit der Aufgabe überfordert wäre, mit seiner eigenen kleinen Kraft dafür zu sorgen, dass Reich Gottes auf dieser Erde Gestalt annimmt. Vielmehr geht es darum, dass in unserem Herzen und Verstand Jesu Geist einkehrt und uns von innen her wandelt, aus selbstbezogenen Menschen solche macht, die offen sind für ihre Mitmenschen, sich von deren Sorgen und Nöten umtreiben lassen und sich mit ihnen gemeinsam um Lösungen bemühen. Es ist die erfahrene Liebe Gottes, die uns zur Hingabe an andere befähigt, uns als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Reich Gottes in den Dienst stellt.

Natürlich wünschen wir uns – gerade auch von uns selbst! – solch ein glaubwürdiges Christenleben. Wir wünschen es uns sehr, dass Jesu Geist in unsere Herzen einkehrt, uns der Liebe Gottes vergewissert und uns durch diese Liebe zur Hingabe an andere befähigt. Zugleich aber fragen wir uns: Wie geht das? Wie kann eine solche Wandlung in mir vor sich gehen? Ist es eine plötzliche Veränderung; das, wovon andere als ‚Bekehrung‘ reden? Oder ist es ein stilles Wachsen, ein langsames Sich-Wandeln? Kann ich selbst etwas dafür tun, dass Jesu Geist in mir Raum gewinnt?

Werden wie die Kinder

Albert Schweitzer sagt: Eigentlich liegt die Offenheit für eine Wandlung in einem jeden von uns noch verborgen. Er erkennt sie, wenn er sich an den Reichtum, das Vertrauen und die Offenheit seiner eigenen Kinderseele erinnert. Schweitzer weist auf das Wort Matthäus 18,3 hin: „Wahrlich, ich sage euch, es sei denn dass ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“, und knüpft daran eine erste Antwort auf unsere Fragen:

Warum verlangt Jesus Kindlichkeit für das Reich Gottes? Im Kind ist doch nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes. Gewiss. Und doch, wenn wir an unser eigenes Kindsein zurückdenken, empfinden wir deutlich, dass wir damals etwas besaßen, das kostbar war, und das wir nach und nach auf dem Lebenswege verloren haben. Was war es? Dass wir unverbraucht waren.

Wir glaubten den Menschen, in dem was sie uns sagten. Wir glaubten, dass das Wahre und das Gute sich überall durchsetzen würden. Wir glaubten, dass es ein wirkliches Verzeihen und Vergessen gäbe, wenn Menschen sich gegenseitig weh gemacht hätten. So vieles und so vieles glaubten wir.

Da kamen aber die Enttäuschungen des Lebens. So und so viel Mal wurden wir von Menschen getäuscht und verraten. So und so viel Mal sahen wir, dass die Torheit und das Schlechte über die Wahrheit und das Gute triumphieren. So und so viel Mal erlebten wir es, dass das Verzeihen und die Aussöhnung zwischen Menschen ein äußerliches Spiel blieb. Da wurden wir weltklug wie die andern und dachten als welt­kluge Menschen lebenstüchtig zu werden. Wir warfen die kindliche Unbefangenheit ab.

Und was geschah? Mit dieser Unbefangenheit haben wir das Beste an unserm geistigen Menschen verloren. Nur in der Unbefangenheit ist Kraft zum Guten und Begeisterungsfähigkeit. Nur der unbefangene Mensch kann dem andern Menschen geistig etwas zugeben, um selber geistig etwas zu werden im Sinne des innerlichen Fortschritts.

Dann sagt Jesus, dass wir uns unsere Unbefangenheit von der Welt nicht rauben lassen sollen. Tausendmal getäuscht sei, als wärest du nicht getäuscht. Ringe danach, jeden Tag als ein unverbrauchter Mensch ins Leben hineinzutreten. Im Kampf ums Dasein kannst du dann manche Nachteile erleben. ... Aber im Kampf um den inwendigen Menschen kommst du voran. Und darauf allein kommt es zuletzt an.

Enttäuschungen die Stirn bieten

Es ist nicht nur die Unbefangenheit und die Begeisterungsfähigkeit, die wir von den Kindern wieder neu lernen sollen, wenn wir auf das Reich Gottes zugehen wollen. Noch ein Zweites gehört dazu: dass wir an unseren Idealen festhalten. Also festhalten an dem, was wir durch Jesu Botschaft für gut und richtig erkannt haben. Für gewöhnlich halten wir es für wichtig und für normal, dass ein Mensch, wenn er älter wird, an Lebenserfahrung, an Reife und an Vernunft zunimmt. Oftmals geschieht dieses Wachsen an Reife durch Enttäuschungen hindurch, durch Schmerz, durch Tränen und durch Niederlagen. Dadurch laufen wir häufig Gefahr, in solcher Weise reif und erwachsen zu werden, dass wir all zu vernünftig, vorsichtig und misstrauisch werden. So manches Mal werfen wir dann aufgrund von Enttäuschungen unsere Überzeugungen des Guten, der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Güte über Bord und verbannen damit Fröhlichkeit, Unbefangenheit, Licht und Wärme aus unserem Leben. Wir wissen aber, dass der Geist der Liebe nur dann zur Herrschaft gelangen und unserer Welt ein menschenfreundliches Antlitz verleihen kann, wenn solcher Geist der Angst, der Berechnung und der Selbstsucht weicht. Denn eine Welt, die dem Prinzip des do ut des (ich gebe, damit du gibst) huldigt, kann nicht zum Reich Gottes werden.

Darum ermutigt Schweitzer gerade uns Erwachsene dazu, den jugendlichen Idealismus nicht von Resignation und Angst ersticken zu lassen:

Was wir gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen, ist eine resignierte Vernünftigkeit. Einer erwirbt sie sich nach dem Vorbilde anderer, indem er Stück um Stück die Gedanken und Überzeugungen preisgibt, die ihm in seiner Jugend teuer waren. Er glaubte an den Sieg der Wahrheit; jetzt nicht mehr. Er glaubte an die Menschen; jetzt nicht mehr. Er glaubte an das Gute; jetzt nicht mehr. Er eiferte für Gerechtigkeit; jetzt nicht mehr. Er vertraute in die Macht der Gütigkeit und der Friedfertigkeit; jetzt nicht mehr. Er konnte sich begeistern; jetzt nicht mehr. Um besser durch die Fährnisse und Stürme des Lebens zu schiffen, hat er sein Boot erleichtert. Er warf Güter aus, die er für entbehrlich hielt. Aber es war der Mundvorrat und der Wasservorrat, dessen er sich entledigte. Nun schifft er leichter dahin, aber als verschmachtender Mensch.

[...] Zu gern gefallen sich die Erwachsenen in dem traurigen Amt, die Jugend darauf vorzubereiten, dass sie einmal das meiste von dem, was ihr jetzt das Herz und den Sinn erhebt, als Illusion ansehen wird. Die tiefere Lebenserfahrung aber redet anders zu der Unerfahrenheit. Sie beschwört die Jugend, die Gedanken, die sie begeistern, durch das ganze Leben hindurch festzuhalten. Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum, den er gegen nichts eintauschen soll.

Wir alle müssen darauf vorbereitet sein, dass das Leben uns den Glauben an das Gute und Wahre und die Begeisterung dafür nehmen will. Aber wir brauchen sie ihm nicht preiszugeben. Dass die Ideale, wenn sie sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, gewöhnlich von den Tatsachen erdrückt werden, bedeutet nicht, dass sie von vornherein vor den Tatsachen zu kapitulieren haben, sondern nur, dass unsere Ideale nicht stark genug sind. Nicht stark genug sind sie, weil sie nicht rein und stark und stetig genug in uns sind.

Die Macht des Ideals ist unberechenbar. Einem Wassertropfen sieht man keine Macht an. Wenn er aber in den Felsspalt gelangt und dort Eis wird, sprengt er den Fels; als Dampf treibt er den Kolben der mächtigen Maschine. Es ist dann etwas mit ihm vorgegangen, das die Macht, die in ihm ist, wirksam werden ließ.

So auch mit dem Ideal. Ideale sind Gedanken. Solange sie nur gedachte Gedanken sind, bleibt die Macht, die in ihnen ist, unwirksam, auch wenn sie mit größter Begeisterung und festester Überzeugung gedacht werden. Wirksam wird ihre Macht erst, wenn mit ihnen dies vorgeht, dass das Wesen eines geläuterten Menschen sich mit ihnen verbindet. Die Reife, zu der wir uns zu entwickeln haben, ist die, dass wir an uns arbeiten müssen, immer schlichter, immer wahrhaftiger, immer lauterer, immer friedfertiger, immer sanftmütiger, immer gütiger, immer mitleidiger zu werden. In keine andere Ernüchterung als in diese haben wir uns zu ergeben. In ihr härtet sich das weiche Eisen des Jugendidealismus zum Stahl des unverlierbaren Lebensidealismus.

[...] Das Wissen vom Leben, das wir Erwachsene den Jugendlichen mitzuteilen haben, lautet also nicht: ‚Die Wirklichkeit wird schon unter euren Idealen aufräumen‘, sondern: ‚Wachset in eure Ideale hinein, dass das Leben sie euch nicht nehmen kann.‘

Den Idealen Taten folgen lassen

Dass es mit Idealen allein nicht getan ist, weiß auch Schweitzer. Nicht umsonst ist sein eigenes Leben ein beredtes Zeugnis dafür, dass dem Wissen um das gott­gewollte Gute in der Welt Taten folgen müssen, wenn ein Mensch den Geist Jesu in sich spürt und den Ruf Jesu hört.

Deshalb gehört stets beides in unserem Leben untrennbar zusammen: das Be­wusstsein, die innere Überzeugung, der Ruf auf der einen Seite, die Tat, der Ge­horsam, das glaubwürdige Handeln auf der anderen Seite. Wo wir die Ideale des Guten, der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Güte wirklich verinnerlicht haben, besteht die Chance, dass Frauen und Männer, auch bereits Kinder und Jugendliche, dazu beitragen, dass in unserer Welt etwas von Reich Gottes sichtbar und erfahrbar wird.

Einige Beispiele sollen an dieser Stelle genannt werden:

Es ist nicht damit getan, dass uns bewusst ist, dass die zunehmende Konzentration von CO2 in der Atmosphäre zu einer Erwärmung des Erdklimas mit katastrophalen Folgen für das ökologische Gleichgewicht führt, zugleich aber unbedacht Jahr für Jahr Flüge in den Süden buchen, obgleich wir doch wissen, dass ein Flugzeugstart der Umwelt so viel Schadstoffe zuführt, wie Autofahren über mehrere Jahre.

Es ist nicht damit getan, sich gegen Müllverbrennungsanlagen zu wehren und vom guten Sinn und Wert der Mehrwegpackungen zu reden, selbst aber zu den bequemeren Einwegprodukten zu greifen.

Es ist nicht damit getan, die weltweiten wirtschaftlich ungerechten Besitzverhältnisse anzuprangern, zugleich aber in unserem Land Waren zu erwerben, deren Herkunft aus ausbeutenden Arbeitsbetrieben als vermutet oder gar gesichert gilt.

Die Liste von Beispielen, wo glaubwürdiges Handeln unter den Menschen dringend geboten ist, ließe sich noch lange fortschreiben; darum sei zusammenfassend gesagt: Es ist nicht allein damit getan, den Ruf Jesu mit den Ohren und mit dem Herzen zu hören, sondern auf dem Weg zum Reich Gottes müssen Taten folgen.


© Prof. Dr. Werner und Dorothea Zager
Abdruck oder Veröffentlichung nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Verfasser


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